«Wir dürfen weiterwachsen», Interview mit Gründungsmitglied Christine Röthenmund zu 20 Jahren kindsverlust.ch
Als Christine Röthenmund vor über 20 Jahren das Konzert «Lied des Lebens» besuchte, ahnte sie nicht, damit den ersten Schritt in Richtung Vereinsgründung von kindsverlust.ch mitzugehen. Im Interview erzählt die selbst betroffene Mutter, Trauerbegleiterin und Systemische Beraterin von den Anfängen der Fachstelle kindsverlust.ch und warum unser Engagement bis heute so wichtig ist.
Oft verbirgt sich hinter einem ehrenamtlichen Engagement eine persönliche Geschichte. Trifft das auch auf dich zu?
Christine Röthenmund: Ja, ich bin selbst betroffene Mutter. Unsere älteste Tochter ist im Alter von vier Monaten gestorben. Ihre grosse Operation überlebte sie nicht. Wir wurden als Familie im Spital sehr sorgfältig betreut und begleitet. Unter anderem dank dieser professionellen Begleitung ist es uns gelungen, das einschneidende Ereignis in unserem Leben zu integrieren und daraus Kraft zu schöpfen. Diese kompetente Begleitung von Fachpersonen, wie wir sie erfahren durften, ist nicht selbstverständlich. Ich hatte da für mich den grossen Wunsch, dass auch andere betroffene Eltern umsichtige Begleitung erfahren, wenn ihr Kind früh stirbt.
Und wie wurde aus diesem Wunsch ein Verein?
Christine Röthenmund: Alles begann mit Musik. Als ich damals im Jahr 2001 eine Einladung zum Requiem «Lied des Lebens» erhielt, hätte ich niemals gedacht, dass aus den Begegnungen mit anderen Besucherinnen ein paar Monate später der Verein kindsverlust.ch entstehen würde. Sandra Schmuki, Komponistin, und Detlef Hecking, Text, haben das Werk geschrieben, weil sie in ihrem Umfeld immer wieder mit dem frühen Tod von Kindern konfrontiert wurden. Im Anschluss an das berührende Konzert entstand ein Podiumsgespräch zum frühen Kindsverlust, wo ich als betroffene Mutter mitgewirkt habe. Beim gemütlichen Ausklingen war uns Anwesenden und späteren Gründungsmitgliedern klar: zum Thema früher Kindsverlust gibt es viel zu tun. Wir wollten weitermachen und uns nachhaltig für Eltern und Familien einsetzen, deren Kind früh stirbt.
Wie ging es weiter mit dieser initialen Idee?
Christine Röthenmund: In einer ersten Sitzung nahm die anfängliche Idee mehr Gestalt an. Mehr Fachpersonen haben sich uns angeschlossen und unser gemeinsames Ziel mitgetragen. Wir gründeten unter der ursprünglichen Bezeichnung den «Verein zur Förderung einer professionellen Beratung und Begleitung bei Fehlgeburt und perinatalem Kindstod», machten uns Gedanken zur Ausrichtung und suchten nach Geldern. Es wurden in den ersten Jahren immer mehr Mitglieder, die unser Anliegen unterstützten. Das hat uns den Mut gegeben, immer wieder für kindsverlust.ch und betroffene Familie einzustehen. Nach den beiden Anfangsjahren wurde 2003 die Fachstelle eröffnet.
Was wollte kindsverlust.ch damals bewegen?
Christine Röthenmund: Es gab zwei wichtige Hauptanliegen. Zum einen standen die Beratungen von betroffenen Familien im Zentrum. Wir wollten ihnen eine Anlaufstelle sein, damit sie in ihrem weiteren Lebensweg bestärkt werden und sie ihre Rechte kennen. Zum anderen war klar, dass es eine Befähigung von involvierten Fachpersonen braucht. Denn sie sind im ersten Moment für Eltern entscheidend, wenn sie erfahren, dass ihr Kind nicht mehr lebt oder lebensbedrohlich krank ist. Grundgedanke war schon damals, Eltern in ihren Ressourcen und ihrer Selbstverantwortung zu bestärken.
Dieses Jahr feiert die Fachstelle kindsverlust.ch 20 Jahre. Was hat sich seit damals geändert?
Christine Röthenmund: Der Grundgedanke der Bestärkung von Familien, die ihr Kind verloren haben, damit sie ihren eigenen Weg des Weiterlebens finden, ist bis heute geblieben. Geändert hat sich das Bewusstsein bei Fachpersonen und Privatpersonen. Das erlebe ich auch in meinen Beratungen als Trauerbegleiterin. Durch die gewachsene Medienpräsenz, zahlreiche Fortbildungen in Institutionen, den Kursen und Fachtagungen von kindsverlust.ch ist der frühe Kindsverlust ein präsenteres Thema als vor 20 Jahren. Dies zu erreichen war nicht einfach, denn Tod und Trauer sind nach wie vor Tabuthemen. Es ist hilfreich und befähigend zu erfahren, wie ich ihnen persönlich auf einer gesunden Ebene begegnen kann. Da hilft die Arbeit von kindsverlust.ch tatkräftig mit.
Es hat also ein wichtiger Wandel stattgefunden. Warum bist du bis heute Mitglied bei kindsverlust.ch?
Christine Röthenmund: Wenn man sich überlegt, dass fast in jeder Familie der frühe Kindsverlust irgendwann zum Thema wird, darf der Verein noch sehr viel weiterwachsen. In irgendeiner Form sind wir alle betroffen, sei dies als Eltern, Geschwister, Grosseltern, als Angehörige oder Bekannte. Es ist wichtig, dass wir uns für Familien und deren professionelle Begleitung einsetzen, wenn ihr Kind früh stirbt. Mit meiner Mitgliedschaft setze ich ein Statement. Mir ist es ein Anliegen, dass Trauer und Tod wieder ein natürlicher Teil unseres Lebens werden. Wir sollten das Vertrauen zurückerlangen, dass jeder Mensch die Stärke hat, bei Tod und Verlusterfahrungen zu trauern, den Schmerz auszuhalten und weiterzuleben. Die Arbeit von kindsverlust.ch hilft stark mit, aufzuzeigen, wie wir mit Abschied und Verlust umgehen können. Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag für die psychische Gesundheit im weiteren Sinne.
Was möchtest du betroffenen Familien mit auf den Weg geben?
Christine Röthenmund: Für Familien nach frühem Kindsverlust ist es bedeutsam, mit ihrem verstorbenen Kind in Kontakt zu bleiben, ihr Mitgefühl und die Liebe zu ihm zu spüren. In der Zeit der Trauer sind Selbstfürsorge, Raum und Zeit wertvoll. Die Beziehung zum Kind wird sich verändern und es kann seinen Platz in der Familie bekommen.
Was wünschst du dir für die Zukunft von kindvserlust.ch?
Christine Röthenmund: Ich wünsche mir für die Fachstelle kindsverlust.ch, dass ihr der wache und umsichtige Blick erhalten bleibt. Wichtig finde ich den Mut, Themen wie zum Beispiel den späten Schwangerschaftsabbruch anzusprechen, wie das an der diesjährigen interprofessionellen Fachtagung Perinataler Kindstod gemacht wird. Der Podcast von Yuri hat einmal mehr gezeigt, dass es noch viel zu tun gibt für die palliative Begleitung von Neugeborenen.
Das Interview wurde am 4. April 2023 mit Christine Röthenmund, Gründungsmitglied kindsverlust.ch, Familientrauerbegleiterin und Systemische Beraterin und betroffene Mutter mit Stefanie Schwaller, Verantwortliche Kommunikation und Fundraising geführt.