Alessandras Geschichte – Begleitung nach über 50 Jahren (Erzählung aus dem Beratungsdienst von kindsverlust.ch)
Gerne möchten wir mit Ihnen die Geschichte von Frau B.* und ihrer Tochter Alessandra teilen. Sie zeigt auf, wie wichtig eine professionelle Begleitung betroffener Eltern sein kann, respektive wie nachhaltig belastend der Verlust des eigenen Kindes ist, wenn eben diese Unterstützung fehlt und Betroffene alleine gelassen werden.
Vor einiger Zeit hat sich Frau B. mit folgenden Worten per Mail an uns gewendet:
“Ich bin eine 73 Jahre alte Frau. Meine Tochter wäre im Dezember 50 Jahre alt geworden. Leider starb sie 2 Stunden nach der Geburt. Sie hatte einen Herzfehler und einen Nabelbruch. Leider habe ich mein Kind nie gesehen, weder tot noch lebend. Auch bei der Beerdigung war ich nicht dabei, da lag ich noch immer im Spital. Nach mehreren Untersuchungen und Eingriffen bekam ich dann 4 Jahre später einen gesunden Sohn, der unterdessen 2 kleine Söhne hat. Ich habe also zwei liebe Enkel. Trotzdem lässt mich meine Geschichte nicht los. Ich konnte mein erstes Kind nie halten, wie soll ich es loslassen?
Können Sie mir in irgendeiner Form weiterhelfen? Für Ihren Ratschlag danke ich Ihnen herzlich.”
Wir haben Frau B. ein Telefongespräch angeboten um zu besprechen, wo sie steht, was sie am meisten beschäftigt und was mögliche nächste Schritte sein könnten. Kurz darauf meldete sich Frau B. telefonisch und erzählte, was Sie erlebt hat. Zum einen empfand Sie eine grosse Trauer um den Verlust ihrer Tochter Alessandra und zum anderen auch Wut, dass sie nie die Gelegenheit bekommen hat, ihr Kind zu sehen, noch in den Armen zu halten. Im Gespräch kristallisierte sich heraus, dass ihr besonders die Anerkennung als Mutter fehlte und dass kaum jemand Alessandra kannte. Mit uns über ihre Erlebnisse zu sprechen, war darum bereits sehr wertvoll für Frau B. Sie äusserte den Wunsch, dass noch viele weitere Fachpersonen von ihrer Geschichte mit Alessandra erfahren sollten, um zu begreifen, wie existenziell professionelle und empathische Trauerbegleitung sein kann.
Wir ermutigten Frau B. ihre Geschichte aufzuschreiben. Ein paar Tage später erhielten wir eine Mail. Darin stand die lange, persönliche und berührende Geschichte mit dem Titel “Alessandra”. Hier die Kurzversion davon:
“10.12.1966: An diesem Samstag um 15 Uhr, bekam ich die ersten leichten Wehen. Um ca. 17 Uhr fuhren wir ins Spital zur Geburt. Um ca. 19.30 Uhr merkte der Arzt, dass etwas mit dem Kind nicht in Ordnung war, evtl. die Nabelschnur um den Hals lag. Nach Absprache mit der Ordensfrau entschied er sich für einen grossen Dammschnitt, damit das Kind mit der nächsten Wehe austreten könne. Mein Mann war während der Geburt dabei. Für mich ging alles recht schnell, ich erinnere mich nicht an Schmerzen. Kurz darauf hörte ich den Arzt zu meinem Mann sagen, das Kind habe keine grossen Überlebenschancen. Mir wurde gesagt, es sei ein Mädchen, es habe einen schweren Herzfehler, dazu einen grossen Nabelbruch, allerdings normale Finger und Zehen, was sonst auch deformiert sei, zusammen mit den übrigen Fehlbildungen. Die Klosterfrau fragte mich, wie das Kind heissen soll, sie nehme es nun mit, um es so schnell wie möglich taufen zu können, bevor es sterbe. Mein Mann wurde vor die Entscheidung gestellt, ob er einwillige, das Kind sterben zu lassen, da es höchstens 2-3 Jahre alt werde mit dauernder künstlicher Beatmung. Der Arzt empfahl ihm, das Kind sterben zu lassen, was dann auch geschah. Wir wissen beide nicht, wo unser Kind starb, müssen aber davon ausgehen, dass unsere Alessandra ganz alleine war. Ich wurde genäht, aufs Zimmer gebracht und mein Mann fuhr nach Hause, da ihm gesagt wurde, er könne hier nichts mehr tun. Ich erinnere mich nicht mehr an die Details nach der Geburt, da ich unter Schock stand. Ich habe auch nicht geweint.
Vier Tage später: Beerdigung von Alessandra. Ich lag noch immer im Spital, zusammen mit einer Wöchnerin mit einem gesunden Mädchen. Ich lag sehr teilnahmslos im Bett, sah die glücklichen Verwandten der jungen Mutter und hatte Schmerzen an meinem Dammschnitt. Nach der Geburt übergab jemand den kleinen Sarg mit Alessandra meinem Mann. Da wir kein Auto hatten, war er per Taxi im Spital. Um den Chauffeur nicht zu erschrecken, hatte er mit seinem grossen Trench-Coat den kleinen Sarg möglichst abgedeckt. Er fuhr nach Hause, stellte den Sarg auf den Tisch und ging zu meinen Eltern. Mein Vater organisierte dann, dass die Aufbahrungshalle im Friedhof – es war bereits nach 20 Uhr – geöffnet wurde und der Sarg bis zur Beerdigung dort aufbewahrt wird. Mein Mann war von dieser ganzen Situation total überfordert, da ihm ebenfalls niemand beistand, ausser meinen Eltern. Schon der Entscheid, das Kind sterben zu lassen, überstieg seine Grenzen. So mindestens empfindet er es heute noch.”
6 Tage nach der Geburt wurde Frau B. nach Hause entlassen. Sie war oft traurig, fühlte sich alleine und konnte mit niemandem, auch nicht mit ihrem Mann, über Alessandra sprechen. 3 Jahre später wurde Frau B. erneut Mutter eines gesunden Sohnes, doch die Beziehung zum Ehemann gestaltete sich zunehmend schwieriger und so liessen sie sich 7 Jahre nach der Geburt von Alessandra scheiden.
Frau B. wurde depressiv und war mehr als 7 Jahre in psychiatrischer Behandlung, doch über den Verlust von Alessandra konnte, wollte oder wurde nicht mehr gesprochen.
Im Beratungsgespräch vermittelten wir Frau B. eine Fachperson zur Begleitung, da beim Niederschreiben sicherlich viele Erinnerungen und Gefühle aufkommen würden. Wir ermutigten sie, auch nach so vielen Jahren hilfreiche Begleitung in Anspruch zu nehmen und empfahlen ihr eine Hebamme um endlich die Anerkennung als Mutter zu spüren, welche ihr nach der Geburt von Alessandra so sehr fehlte. Frau B. fand dies auf Anhieb eine gute Idee und schrieb uns einige Zeit später:
“Ende März habe ich mit der Hebamme, die Sie mir freundlicherweise vermittelt haben, Kontakt aufgenommen. Kurz darauf wurde ich von ihr zu einem Kaffee eingeladen. Die Situation war ideal für mich. Wir hatten ein sehr herzliches, offenes, langes Gespräch. Bei dieser Fachfrau konnte ich vor allem meine vielen und lang andauernden gynäkologischen Einschränkungen, die ich nach der Geburt hatte, “abladen”. Sie war sehr einfühlsam und verständnisvoll, aber auch offen und herzlich. Nachdem ich nun meine Geschichte umfassend deponieren konnte, werde ich wohl meine verbleibende Zeit froher – wenn auch nicht ohne leise Trauer – verbringen können.”
Und vor diesem Beitrag hier schrieb uns Frau B., 2 Jahre nach unserem ersten Kontakt, erneut:
“Heute geht es mir sehr gut. Kürzlich hatte mein Sohn, geboren nach Alessandra, seinen 52. Geburtstag. Er ist verheiratet und hat 2 Kinder. Mit seiner Frau, meiner Schwiegertochter, verstehe ich mich sehr gut und so habe ich doch noch eine “richtige” Familie. Alessandra ist kein Tabuthema mehr. Ich habe vor einiger Zeit in unserem Ferien-Garten am Lago Maggiore einen schönen Gedenkstein für Alessandra gesetzt, den ich auch mit meinen Enkeln besuche. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Hilfe!”
*Name der Redaktion bekannt