
«Wenn ich in meiner Arbeit auf eigene Unsicherheiten stosse, nutze ich den kostenlosen Beratungsdienst von kindsverlust.ch» – Interview mit Nina Marchion
Nina Marchion begleitet als Hebamme seit 15 Jahren Eltern während der Schwangerschaft und im Wochenbett. Gleich bei ihrer ersten Anfrage als freischaffende Hebamme ist das Kind im Wochenbett gestorben. Im Gespräch erzählt sie von ihrer Überforderung, ihrem Umgang damit und ihren Erfahrungen in den Beratungen mit der Fachstelle kindsverlust.ch.
Nina, als gelernte Pflegefachfrau und Hebamme hast du dich im Bereich des frühen Kindsverlusts spezialisiert und begleitest betroffene Familien seit vielen Jahren. Was waren deine ersten Erfahrungen mit frühem Kindsverlust in deiner Hebammentätigkeit?
Nina Marchion: Gleich in meiner ersten Begleitung als freischaffende Hebamme ist das Kind im Wochenbett gestorben. Die Mutter hat mir den Tod ihres Kindes per SMS mitgeteilt. Meine Überforderung mit der Situation war gross. Ich hatte Mühe, mir vorzustellen, die betroffene Familie zu Hause zu besuchen. Die betroffene Mutter entschied sich dann doch, die ihr bereits bekannte Hebamme aus dem Spital für das Wochenbett beizuziehen – ich war sehr erleichtert. Diese Überforderung war ein klares Zeichen für mich. Ich musste mich in der Thematik des frühen Kindsverlusts weiterbilden. Nur so konnte ich in einem nächsten Fall professionell begleiten und betroffenen Familien eine hilfreiche Stütze sein, wenn ihr Kind früh stirbt.
Danke, dass du deine eigene Überforderung mit frühem Kindsverlust hier offen mit uns teilst. Die herausfordernde Situation, die du beschreibst, erleben viele begleitende Fachpersonen, wenn ein Kind früh stirbt. Wie ist dein Weg weitergegangen?
Nina Marchion: Bereits die erste Ausschreibung des Lehrgangs «Professionell begleiten beim frühen Tod eines Kindes» der Fachstelle kindsverlust.ch hatte mich angesprochen. Aufgrund der Familiensituation konnte ich diesen noch nicht, dafür dann aber den zweiten Lehrgang im Jahr 2017 absolvieren. Ich wollte unbedingt mehr Fachwissen zum frühen Kindsverlust sammeln und weitere betroffene Familien kompetent begleiten, ohne dabei diese grosse, bedrückende Überforderung zu spüren. Seither habe ich viele Weiterbildungen besucht und nutze immer wieder den kostenlosen Beratungsdienst von kindsverlust.ch, wenn ich Inputs oder eine fachliche Aussensicht benötige.
Wie haben dir die Beratungen von kindsverlust.ch konkret weitergeholfen?
Nina Marchion: Es gibt mir immer viel Sicherheit für mein Tun in der Begleitung von verwaisten Familien. Vor allem als die regionale Vernetzung unter uns Fachpersonen noch schwächer war, hat mir der Austausch sehr geholfen, wenn ich eine andere Perspektive benötigt habe. Auch wenn ich mir in Abrechnungsfragen nicht sicher bin, hole ich mir bei der Fachstelle eine fachliche Meinung ein.
Gab es für dich eine Art Hemmschwelle, bevor du unseren Beratungsdienst das erste Mal genutzt hast?
Nina Marchion: Ja, auf jeden Fall. Ich musste meine Scham überwinden, allein nicht weiterzukommen und auch ein wenig die Angst, die Beraterin könnte meine Qualifikation infrage stellen. Vielleicht ist es für andere einfacher, mit fremden Personen zu sprechen. Für mich war das bei der ersten Beratung eine Hürde. Umso bereichernder war dann die Erfahrung der ersten Beratung bei der Fachstelle. Ich lege allen involvierte Fachpersonen, die eine Überforderung spüren, sich nicht sicher sind oder einen Austausch in einer herausfordernden Situation wünschen, ans Herz: Traut euch und nehmt den Kontakt zu den Fachberaterinnen von kindsverlust.ch auf. Ihr bekommt eine empathische, vorurteilsfreie und sehr hilfreiche Beratung.
Danke für dieses positive und bestärkende Feedback zu unserem Beratungsangebot für Fachpersonen. Wie ist damals deine erste Beratung bei kindsverlust.ch abgelaufen?
Nina Marchion: An meine allererste Beratung kann ich mich nicht mehr erinnern – ich habe schon so oft auf euch zurückgegriffen. Ich erinnere mich aber gut an eine Frau, die in der 14. Schwangerschaftswoche eine Curettage hatte. Das Kind in ihrem Bauch war allerdings bereits in der 11. Schwangerschaftswoche gestorben. Das Spital hat die Kosten für die Curettage der betroffenen Mutter privat verrechnet. Die Verantwortlichen hatten sich am Todeszeitpunkt des Kindes orientiert und nicht wie gesetzlich vorgesehen am Zeitpunkt der Curettage. Ich war so froh, dabei eure fachliche Unterstützung zu erhalten und mich wiederholend, überzeugt von der Richtigkeit meines Tuns, wieder für die Rechte der betroffenen Mutter einzusetzen. Schlussendlich ist es mir gelungen, die Handhabung des Spitals auch für künftige Fälle zu ändern. Ohne die Unterstützung der Beraterin von kindsverlust.ch hätte ich keinen so langen Atem gehabt.
An diesem Punkt möchten wir dir von ganzem Herzen für dein wichtiges Engagement und dein geduldiges Dranbleiben danken. Gab es andere Beratungen, die deine Arbeit als Fachperson früher Kindsverlust geprägt haben?
Nina Marchion: Gerade wenn bei einem frühen Kindsverlust ältere Geschwister involviert sind, war ich immer wieder froh um eine kurze Beratung bei euch – sei dies telefonisch oder per Mail. In der Familienbegleitung mit betroffenen Geschwisterkindern habe ich tendenziell am meisten Unsicherheiten. Packe ich das richtig an? Was braucht die Familie noch weiter für ein gesundes Weiterleben? Sind nebst mir als begleitende Hebamme weitere Fachpersonen notwendig? Ist das Verhalten der betroffenen Geschwisterkinder in einem gesunden Rahmen? Im Austausch mit der Fachberaterin von kindsverlust.ch werden meine Fragen beantwortet und die nächsten Schritte sind klar. Nach einer Beratung wird mir jedes Mal auch wieder bewusst, welche Weiterbildungen mir noch konkret für meinen Arbeitsalltag weiterhelfen würden.
Du hast den Beratungsdienst vor allem als freischaffende Hebamme genutzt. Wem kann er weiter eine Orientierung bieten?
Nina Marchion: Allen Fachpersonen, die im konkreten Fall mit einem frühen Kindsverlust konfrontiert sind. Eine Beratung oder ein Coaching bei kindsverlust.ch regt die Selbstreflexion an. Kann ich die betroffene Familie begleiten oder was brauche ich, um mich für eine professionelle Betreuung kompetent zu fühlen? Wann immer ich in der Zusammenarbeit mit Familien, deren Kind früh stirbt, auf Unsicherheiten stosse, kann ich mir die Bestätigung in einer konstelosen Beratung bei kindsverlust.ch holen. Vor allem wenn in der Begleitung etwas nicht so gut gelaufen ist, ist ein gemeinsames Besprechen der Situation mit einer Fachberaterin von kindsverlust.ch sehr zu empfehlen. So wird die Begleitung für eine nächste Familie umsichtiger und unterstützender für ihr Weiterleben nach dem Tod des eigenen Kindes.
Du hast viel Erfahrung im Bereich des frühen Kindsverlusts. Brauchst du als Profi unsere Beratungen denn noch?
Nina Marchion: Ja, auf jeden Fall. Ich werde die Beratungen von kindsverlust.ch so lange nutzen, wie es ihn geben wird. Als freischaffende Hebamme bin ich immer wieder froh um den Austausch mit anderen, für wertvolle Inputs und Fachinformationen.
Liebe Nina, danke für deine Zeit und deine inspirierenden Worte. Gibt es noch etwas, dass du begleitenden Fachpersonen mit auf den Weg geben möchtest?
Nina Marchion: Mir liegt die Qualität der Begleitung von Familien, deren Kind früh stirbt, sehr am Herzen. Ich habe selbst drei frühe Fehlgeburten erlebt, kenne auch die Seite der Betroffenen. Für eine professionelle Begleitung ist es allerdings grundlegend, nicht aus der eigenen Betroffenheit heraus zu handeln. Es ist wichtig, bewusst als Fachperson zu begleiten und bei einer eigenen Überforderung genau hinzusehen. Und ich möchte euch als Fachstelle kindsverlust.ch danken. Eure Arbeit macht einen grundlegenden Unterschied für alle Familien, deren Kind früh stirbt und ihren weiteren Lebensweg.
Das Interview wurde am 3. August 2023 mit Nina Marchion, freischaffende und in der Praxis von Dr. med. Mario Gebhardt in Chur tätige Hebamme, mit Stefanie Schwaller, Verantwortliche Kommunikation und Fundraising von kindsverlust.ch, geführt.
Unser Beratungsdienst ist auch für Sie als Fachperson da
Sie müssen die trauernden Eltern nicht allein begleiten. Sie sind Teil eines vielfältigen Netzwerks. Nutzen Sie kindsverlust.ch.
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