
«Nur mit Erfahrungswissen kann ich professionell beraten» Im Gespräch mit Einblicks-Praktikantin und Lehrgangsabgängerin Andrea Fässler
Im vergangenen Frühling absolvierte Andrea Fässler, Fachverantwortliche früher Kindsverlust und Pflegefachfrau am Spitalzentrum Biel (SZB), ihr Einblicks-Praktikum für Lehrgangsabgänger:innen an der Fachstelle kindsverlust.ch. Im Interview erzählt sie uns, welche konkreten Erkenntnisse sie durch die Einblickstage für ihre Arbeit gewonnen hat.
In den vergangenen Jahren hast du dich im Spitalzentrum Biel (SZB) stark für die Verankerung einer professionellen Begleitung bei frühem Kindsverlust engagiert. Wie ist es dazu gekommen?
Andrea Fässler: Seit 2010 arbeite ich als Pflegefachfrau am Spitalzentrum in Biel auf der Gynäkologie- und Wochenbettabteilung. Davor war ich für «Ärzte ohne Grenzen» im Einsatz. Meine Sensibilität zu Kindersterben und Tod kommt auch prägend aus diesen Auslanderfahrungen. Vor ungefähr fünf Jahren habe ich zusammen mit Karin Lüthi, Hebamme im Gebärsaal, die Fachverantwortung zum frühen Kindsverlust am Spitalzentrum Biel (SZB) übernommen. Wir haben beide den Lehrgang bei Kindsverlust.ch besucht und den Fachbereich auf bereits bestehenden Strukturen Stück für Stück aufgebaut und erweitert. Seit 2022 bieten wir Sprechstunden für betroffene Familien an und entwickeln uns stets weiter.
Das klingt nach einer abwechslungsreichen und sehr wertvollen Arbeit für Familien, deren Kind früh stirbt, und für die ganze Belegschaft im Spitalzentrum Biel (SZB). Wie kann man sich deine Rolle im Spital konkret vorstellen?
Im Akutfall, das heisst, wenn ein Kind während der Schwangerschaft oder rund um die Geburt stirbt, ein später Schwangerschaftsabbruch bevorsteht oder eine vorgeburtliche, belastende Diagnostik vorliegt, sind Karin Lüthi und ich die Ansprechpersonen im Spital – auch für das gesamte Betreuungsteam von der Pflege, Hebammen, Ärzt:innen und auch situationsübergreifend je nach Situation (Neonatologie, ambulante Tagesklinik, gynäkologisches Ambulatorium, etc.). Zu Beginn war die Sensibilisierung des Teams sehr wichtig. Das Grundverständnis ist mittlerweile gegeben, was sehr bestärkend ist. Wir sorgen für internen Austausch und Weiterbildungen, verbreiten wichtige Informationen zum frühen Kindsverlust im Team und bauen unser Netzwerk aus, so auch zur Fachstelle kindsverlust.ch. Unser langfristiges Ziel ist unter anderem, möglichst viele unserer Mitarbeiter:Innen zu befähigen, die direkte Betreuung und Begleitung im Spitalsetting zu übernehmen. So sind Karin und ich in Zukunft nebst unserer täglichen Arbeit noch flexibler für die oft nicht im Voraus planbaren Sprechstunden verfügbar.
Du sprichst den Kontakt zu unserer Fachstelle an. Welche Rolle spielte kindsverlust.ch für den Aufbau des Fachbereichs?
Andrea Fässler: Wir als Spital haben immer wieder Informationen zu Weiterbildungen und Fachinformationen von kindsverlust.ch erhalten. Franziska Maurer hat vor unserer Übernahme der Fachverantwortung wertvolle Schulungen bei uns gegeben. Das Thema war präsent, aber in den Strukturen vor 2019 zu wenig ganzheitlich konzeptuell verankert. Nachdem ich zusammen mit Karin Lüthi die Fachverantwortung übernommen habe, wurdet ihr zu meiner wichtigsten Ansprechpartnerin. In kostenlosen Beratungen und Coachings habe ich immer wieder wertvolle Unterstützung erhalten. Das Absolvieren der Weiterbildungen und vor allem euer Lehrgang «Professionell begleiten beim frühen Tod eines Kindes» haben mir die notwendige, fachliche Grundkompetenz gegeben, um den Fachbereich professionell und fundiert zu entwickeln.
Du hast bereits viel Fachwissen und Erfahrungen sammeln dürfen, bevor du das Einblicks-Praktikum besucht hast. Welche zusätzlichen Vorteile hast du dir für deine Arbeit erhofft?
Andrea Fässler: Wie anfangs erwähnt, bieten wir seit 2022 Sprechstunden für Betroffene an, sei es vor, während oder nach einem entsprechenden Ereignis rund um den frühen Kindsverlust. Wir stehen in den Beratungen immer wieder vor Herausforderungen. Ich wusste, das uns fehlende Erfahrungswissen würde ich bei euch an der Fachstelle erhalten. Eigentlich wollte ich ein paar Tage bevor ich von eurem neuen Angebot erfahren habe, einen Schnuppertag für mich anfragen. Das Einblicks-Praktikum hätte nicht passender für mich und die nächsten Schritte am Spitalzentrum Biel (SZB) sein können.
Und konntest du in deinem Einblicks-Praktikum für Lehrgangsabgänger:innen die Erfahrungswerte sammeln, wie du sie dir gewünscht hattest?
Andrea Fässler: Ja, auf jeden Fall. Es fällt mir nun leichter, die passenden Worte zu finden und herausfordernde Gespräche zu führen. «Wie kann ich empathisch, einfühlsam sein und gleichzeitig auf den Punkt bringen, worum es geht? », das habe ich bei euch in Beratungssituationen gelernt. Auch gelang es mir, unsere Rolle und Funktion als Beratende besser zu identifizieren. In all den Kursen habe ich viel hilfreiches Wissen vermittelt erhalten. Im Einblicks-Praktium habe ich gelernt, wie ich es eins zu eins in einer konkreten Beratung anwende. Für mich eine unverzichtbare Erfahrung und Erweiterung meines eigenen Horizontes.
Wie sind deine Tage an der Fachstelle konkret abgelaufen?
Andrea Fässler: Ich konnte je zwei Wochentage, die Beratungstage Dienstag und Donnerstag, mit zwei verschiedenen Beraterinnen verbringen. Zu Beginn haben wir den ungefähren Tagesablauf sowie die angekündigten Beratungsgespräche vorbesprochen und ich durfte eigene Themen einbringen, die für mich und meine Arbeit im Spitalzentrum Biel (SZB) zentral sind. Ich konnte bei telefonischen und Beratungen per E-Mail dabei sein, mitdenken und evaluieren. Der gemeinsame Austausch mit den Beraterinnen war sehr hilfreich und hat zur Selbstreflexion beigetragen. Besonders interessant war die Fallbesprechung, die ich gemeinsam mit Franziska Maurer und dem ganzen Fachteam von kindsverlust.ch hatte, sowie das Gespräch mit Fachstellenleiterin Anna Margareta Neff Seitz, bei dem unter anderem Pränataldiagnostik und perinatale Palliative Care in Zusammenhang mit unseren Sprechstunden besprochen wurde.
Was nimmst du weiter für dich und deine Arbeit aus den Einblickstagen mit?
Andrea Fässler: Mir ist sehr bewusst geworden, wie wichtig die Rolle der freischaffenden Hebammen mit Erfahrung im Thema Kindsverlust ist. Für uns Fachpersonen in den Spitälern ist es grundlegend, mit ihnen zusammenzuarbeiten. So können wir über unseren Wirkungskreis, sei es im Gebärsaal, auf der Gynäkologie- und Wochenbettabteilung, im gynäkologischen Ambulatorium und im gesamten Spital hinausdenken. Die betroffenen Eltern gehen nach Hause und sind oft auf sich allein gestellt. Wenn wir als Fachperson eine freischaffende Hebamme mit ins Boot holen, ist viel geholfen. Das gilt auch für eine Folgeschwangerschaft nach Kindsverlust, unabhängig des Zeitpunktes.
Sehr schön und bestärkend für uns zu hören, wie wertvoll die Einblickstage für dich und deine Arbeit waren. Für wen macht nach dem Besuch unseres Lehrgangs (und vielleicht auch den Vertiefungstagen) ein zusätzliches Einblicks-Praktikum Sinn?
Andrea Fässler: Alle Fachpersonen, die beratend und begleitend tätig sind, werden sehr viel aus dem Einblicks-Praktikum mitnehmen können. Anders als bei den Weiterbildungen, dem Lehrgang oder den Vertiefungstagen von kindsverlust.ch sind die Einblickstage individuell auf die eigenen Bedürfnisse und Ausgangslage am Arbeitsort zugeschnitten. Ich habe gelernt, wie ich in der Praxis mit den Anliegen der Betroffenen umgehe. Nur mit Erfahrungswissen kann ich in den Sprechstunden professionell beraten und die betroffenen Eltern unterstützen. Zudem habe ich konkrete Literaturvorschläge und wichtige Kontakte zu anderen Fachpersonen erhalten.
Herzlichen Dank für diese positive Rückmeldung. Es freut uns besonders, konnten wir dich in deiner Position und in deinen Aufgaben bestärken. Was hat sich seit deinen Tagen bei uns an der Fachstelle weitergetan im Spitalzentrum Biel (SZB)?
Andrea Fässler: Wir haben unsere Richtlinien zum späten Schwangerschaftsabbruch erneut überarbeitet. Wann immer eine Frau für einen späten Schwangerschaftsabbruch zu uns kommt, wird die Belegschaft in einer Fallbesprechung über die Situation informiert und wir stellen ein erfahrenes Betreuungsteam zusammen, das sich genug Zeit für die betroffene Familie nehmen kann. Zudem gab es erneut eine Fortbildung mit dem Frauenärzt:innen-Team zum frühen Kindsverlust. Wir präsentierten unsere Sprechstunde und das Konzept dazu. Die Erfahrungen aus den Einblickstagen haben da nochmals zusätzliche Klarheit gegeben und das Vorgehen geschärft. Aktuell überdenken wir nun unsere Möglichkeiten und Grenzen bezüglich perinataler Palliative Care am Spitalzentrum Biel (SZB) sowie auch Wege und Möglichkeiten, unser Angebot der Sprechstunden (Vor- und Nachgespräche) systematisch und ergänzend zu den ärztlichen Konsultationen mit einzubauen.
Liebe Andrea, danke dir von Herzen für deine wichtige Arbeit für betroffene Eltern, deine wertvolle Zeit und dein Vertrauen. Möchtest du noch etwas mit auf den Weg geben?
Andrea Fässler: Ich wünsche mir, dass wir dranbleiben – dass wir nicht aufhören, näher zusammenzurücken und als involvierte Fachpersonen gemeinsam arbeiten. Regional entstehen langsam Netzwerke, jedoch sind sie noch nicht flächendeckend – ich denke da auch an den ambulanten Bereich und die vielen frühen Fehlgeburten. Ich wünsche mir, dass wir uns gemeinsam weiter dafür einsetzen, die Betreuungsangebote von Familien zu verbessern, wenn Kinder früh sterben.
Das Interview wurde am 18. Juli 2023 mit Andrea Fässler, Fachverantwortliche früher Kindsverlust und Pflegefachfrau am Spitalzentrum Biel (SZB) mit Stefanie Schwaller, Verantwortliche Kommunikation und Fundraising kindsverlust.ch, geführt.
Mehr Informationen zum Einblicks-Praktikum für Lehrgangsabgänger:innen
Haben Sie unseren Lehrgang besucht und möchten Ihr Wissen zur professionellen Begleitung bei frühem Kindsverlust mit Praxiserfahrungen untermauern? Im Frühling 2024 bieten wir an der Fachstelle erneut ein Einblicks-Praktikum für Lehrgangsabgänger:innen an. An vier Tagen erhalten Sie einen vertieften Einblick in den Beratungsdienst und die Arbeitsweise der Fachstelle kindsverlust.ch. Mehr Informationen erhalten Sie hier.