
«Der Verlust des eigenen Kindes führt zu einem Bruch in der Lebenslinie» – Interview mit Swantje Brüschweiler-Burger
Ab 2025 bietet die Fachstelle kindsverlust.ch den neuen Lehrgang «Sterben am Lebensanfang» für Fachpersonen aus Therapie und Beratung an. Im Interview bettet Swantje Brüschweiler-Burger (lic.phil., eidg. anerkannte Psychotherapeutin, Transaktionsanalytikerin CTA-P, Hypnosetherapeutin SIMH und Gastdozentin FHNW Soziale Arbeit) das neue Angebot ein und teilt interessante Hintergrundinformationen mit uns. Warum braucht es dieses Angebot für eine nachhaltige Begleitung betroffener Eltern?
Bereits seit über 15 Jahren arbeitest du als Psychotherapeutin im Bereich des frühen Kindsverlusts. Wie ist es dazu gekommen?
Swantje Brüschweiler-Burger: Ich habe vor 21 Jahren selbst mein erstes Kind verloren. Diese Erfahrung als Mutter hat auch meinen beruflichen Weg als Psychotherapeutin geprägt. Durch die persönliche und fachliche Auseinandersetzung hat sich die Thematik des frühen Kindsverlustes zu einem meiner Schwerpunkte entwickelt – in der Therapie und auch in der Weiterbildung.
Eine Frage an dich als selbstbetroffene Mutter und Fachexpertin interessiert mich besonders: Welche Bedeutung hat der frühe Kindsverlust für die Gesundheit betroffener Mütter und Väter?
Swantje Brüschweiler-Burger: Bei betroffenen Eltern löst der frühe Tod des eigenen Kindes oft eine existenzielle Krise aus. Der Tod führt zu einem Bruch in der Lebenslinie, der oft zu Beginn als Überforderung erlebt wird. Je nach Resilienzfaktoren und vorhandenen Ressourcen hat der Verlust unterschiedliche Auswirkungen. Neben der Verarbeitung des Todes des eigenen Kindes tauchen neue Themen auf wie eine Erschütterung des Glaubens im weitesten Sinne und des Vertrauens ins Leben oder die Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit und dem eigenen Selbstbild. Auch die Beziehungen zum Partner und dem weiteren Umfeld wie Familie und Freundeskreis können sich verändern.
Was gilt es in der Begleitung oder Beratung von betroffenen Eltern zu beachten?
Swantje Brüschweiler-Burger: Es ist wesentlich, den Eltern einen Raum des Verständnisses und der Akzeptanz zu bieten, der es ihnen ermöglicht, sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen, ohne voreilige Entscheidungen treffen zu müssen. Indem wir ihnen die Möglichkeit geben, mit gezielten Massnahmen wie Verlangsamung oder körper- und beziehungsorientierten Ansätzen einen sicheren Raum zu finden, unterstützen wir sie dabei, zu einem Zustand innerer Ruhe und Klarheit zurückzufinden. Dieser Zustand unterstützt ebenfalls die Beziehungsaufnahme und Verbindung zum verstorbenen Kind.
Wie kann ich mir die unterstützende Wirkung dieses Vorgehens für die betroffenen Eltern konkret vorstellen?
Swantje Brüschweiler-Burger: Dieser Ansatz stärkt ihre individuelle Trauererfahrung und Autonomie, indem er sie befähigt, in einem Zustand extremer Verletzlichkeit bewusste und selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Durch das Durchleben und Akzeptieren ihrer komplexen und vielschichten Gefühlen wird ein gesunder Weg des Weiterlebens gefördert. Er ermöglicht es den Eltern, Handlungen zu wählen, die sie im Einklang mit ihren eigenen Werten und Bedürfnissen sehen, anstatt aus der Not oder im Schockzustand zu handeln.
Die Fachstelle kindsverlust.ch hat einen neuen Lehrgang «Sterben am Lebensanfang» konzipiert, um Psychotherapeut:innen, Psycholog:innen, Psychiater:innen und weitere beratende Fachpersonen für Eltern nach frühem Kindsverlust zur Unterstützung dieser Trauerprozesse weiterzubilden.
Als Fachexpertin hast du den Zertifikatslehrgang mitgestaltet und –entwickelt. Warum kommt dieses Angebot gerade jetzt?
Swantje Brüschweiler-Burger: Weil wir (nicht nur) in der Schweiz eine einschneidende Unterversorgung haben. Wir haben zum einen viel zu wenig spezialisierte therapeutische und beratende Fachpersonen. Zum anderen fehlt es an spezifischen Ausbildungsmöglichkeiten zur Thematik des frühen Kindsverlusts für Fachpersonen. Den Berührungsängsten innerhalb der Profession und dem Mangel an Angeboten für betroffene Eltern will die Fachstelle kindsverlust.ch mit dem Lehrgang «Sterben am Lebensanfang» entgegenwirken.
Warum ist eine Spezialisierung für eine Begleitung der Mütter und Väter notwendig? Genügt eine therapeutische oder beratende Grundausbildung nicht?
Swantje Brüschweiler-Burger: In den meisten allgemeinen Therapieausbildungen hat das Thema Trauer wenig Platz. Trauer ist – wenn überhaupt – ein Randthema. Das führt zu Berührungsängsten auch bei ausgebildeten, erfahrenen Therapeut:innen. Viele trauen es sich nicht zu, Trauerbegleitung zu leisten. Das höre ich sehr oft auch von erfahrenen Kolleg:innen. Hinzu kommt die Scheu vor dem Thema des frühen Kindsverlusts. Aus Angst vor eigener Betroffenheit und Überforderung vermeiden viele Fachpersonen die Auseinandersetzung mit dem Tod von Kindern.
Wie können wir uns das neue Angebot – übrigens das einzige in der Deutschschweiz für Fachpersonen aus Therapie und Beratung, das sich auf das Thema fokussiert und die ganze thematische Breite abdeckt – konkret vorstellen? Was erwartet die Teilnehmenden?
Swantje Brüschweiler-Burger: Der Lehrgang wird von zehn Referent:innen in drei Modulen geleitet. Das erste Modul fokussiert auf die Begleitung in existenzieller Krise, auch als Phase der Orientierung für Betroffene zu verstehen. Danach geht es darum, wie die Betroffenen eines verstorbenen Kindes dennoch Eltern dieses Kindes sein können und wie sie das Erlebte verstehen und einordnen können. Im letzten Modul steht das Weiterleben in Verbundenheit mit dem verstorbenen Kind und die Neuorientierung im Zentrum. Die anschliessende Supervision rundet den Lehrgang ab.
Du hast zehn Referent:innen erwähnt. Kannst du mehr über sie sagen?
Swantje Brüschweiler-Burger: Der Fachstelle kindsverlust.ch ist es gelungen, für jedes einzelne der drei Module Fachexpert:innen aus allen relevanten Bereichen zu gewinnen, so dass eine breit gefächerte Fülle an Expertise aus Theorie und Praxis gewährleistet wird. Besonders freue ich mich über das Mitwirken von Roland Kachler. Er ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Trauer in der psychotherapeutischen Arbeit. Ich arbeite in der Trauerarbeit selbst mit seinem Ansatz. Die Eltern fühlen sich mit diesem Modell gesehen und verstanden. Weiter konnten wir Referent:innen aus unterschiedlichsten Bereichen der Psychotherapie wie Verhaltenstherapie, Körperpsychotherapie und Traumatherapie sowie aus der Gynäkologie, Geburtshilfe und der Pädiatrie gewinnen. Der multidisziplinäre Ansatz mit Schwerpunkt psychologischer und therapeutischer Begleitung ist somit gewährleistet.
Hast du ein konkretes Beispiel, wie du in deiner Arbeit als Psychotherapeutin betroffene Eltern begleitest?
Swantje Brüschweiler-Burger: Wenn ich ein Paar begleite, deren Kind sterben wird, unterstütze ich sie zum Beispiel in der aktiven Gestaltung der verbleibenden Zeit. So gestalten sie ihre Beziehung aktiv und realisieren nach und nach, dass ihr Kind nicht mehr zurückkommen wird. Auch Psychoedukation kann hilfreich sein. Hier unterstütze ich die betroffenen Eltern, ihr Erleben und ihre Reaktionen einzuordnen und ein Stück weit zu normalisieren. Als Psychotherapeutin unterstütze ich auch darin, die eigenen Ressourcen auf die wesentlichen Punkte zu fokussieren und unnötige Energiefresser zu vermeiden. Oft spielen auch Rituale und Ermutigung zur Selbstfürsorge eine wichtige Rolle in der Begleitung.
Das klingt alles sehr interessant, breit abgestützt und thematisch tiefgehend. Wem würdest du den Lehrgang empfehlen?
Swantje Brüschweiler-Burger: Allen Fachpersonen aus Therapie und Beratung, die sich vorstellen können, zukünftig mit der Thematik des frühen Kindsverlusts zu arbeiten. Es ist keine Vorerfahrung in der Thematik nötig. Ich lege das Angebot auch allen ans Herz, die bereits in diesem Feld arbeiten und sich mehr Sicherheit wünschen. Ich empfehle es Fachpersonen, die sich nicht vor tiefen menschlichen Begegnungen scheuen.
Warum ist der Lehrgang «Sterben am Lebensanfang» gerade für therapeutische und beratende Fachpersonen so relevant?
Swantje Brüschweiler-Burger: In Therapien und Beratungen tauchen immer wieder Themen des frühen Kindsverlusts auf, auch wenn der Hauptanmeldegrund ein anderer ist. Frühe Verluste oder ein Schwangerschaftsabbruch werden oft in der Bedeutung unterschätzt und verlangen später nach einer nachholenden Trauerarbeit. Auch wer sich nicht spezialisieren will, kann der eigenen Unsicherheit gegenüber dem Thema entgegenwirken.
Was zeichnet die therapeutische Arbeit mit verwaisten Eltern besonders aus?
Swantje Brüschweiler-Burger: Die therapeutische Arbeit zum frühen Kindsverlust ist entgegen den Erwartungen nicht primär belastend für die Fachperson– gerade mit entsprechendem Fachwissen und -kompetenzen. Im Gegenteil: Die Betroffenen sind dankbar, ihre Liebe zum verstorbenen Kind zu leben und auf ihrem Weg unterstützt zu werden. Es entsteht meist schnell eine sehr vertrauensvolle Beziehung. Für mich ist die Arbeit mit den Eltern immer wieder sehr berührend und bereichernd, und ich erlebe, wie gut den Eltern die Begleitung tut. So fühle ich mich selbst in meinem Tun bestärkt. Ich möchte gerne nochmals zurück auf die betroffenen Eltern kommen, die schliesslich im Zentrum unserer Arbeit an der Fachstelle kindsverlust.ch stehen.
Wie hilft es denn ihnen konkret, wenn die therapeutische oder beratenden Fachperson, die sie begleitet, den Lehrgang absolviert hat?
Swantje Brüschweiler-Burger: In meinen Therapiesitzungen höre ich oft Folgendes: «Ich war schon in Therapie und es hat mir nicht wirklich weitergeholfen. Hier mit Ihnen fühle ich mich verstanden und kann erkennen, dass ich trotz des schweren Verlustes Gestaltungmöglichkeiten habe.» Was ich damit sagen will: Betroffene Eltern fühlen sich von qualifizierten Fachpersonen viel mehr abgeholt. Der Qualitätsunterschied in der Therapie scheint hier grösser zu sein als bei psychischen Störungen. Denn der Verlust eines Kindes während Schwangerschaft und Geburt ist keine psychische Störung an sich. Kenntnisse der physiologischen geburtshilflichen Prozesse sind daher wesentlich. Es erfordert auch trauerspezifisches Wissen wie z.B. Vertrautheit mit den aus dem Verlust entstehenden psychologischen Folgen.
Liebe Swantje, danke für das Teilen deiner sehr anregenden und umfassenden Worte zum neuen Lehrgang und deinem Erfahrungsschatz. Gibt es etwas, das du den Leser:innen mit auf den Weg geben möchtest?
Swantje Brüschweiler-Burger: Ich richte mich an alle Fachpersonen: Engagiert euch in dieser wertvollen Arbeit, denn der Bedarf bei betroffenen Eltern ist hoch. Im Bereich des frühen Kindsverlusts zu beraten ist für beide Seiten – sowohl für Betroffene als auch für uns Fachpersonen – sehr bereichernd. Mit der Liebe zum Kind als Ressource zu arbeiten, ist oft wortwörtlich herzerwärmend.
Das Interview wurde am 16. Januar 2024 mit Swantje Brüschweiler-Burger, Lic. phil. Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Transaktionsanalytikerin CTA-P, zert. Hypnotherapeutin (SIMH), Praxistätigkeit in Basel und Gastdozentin FHNW Soziale Arbeit sowie Vizepräsidentin von kindsverlust.ch mit Stefanie Schwaller, Verantwortliche Kommunikation und Fundraising kindsverlust.ch, geführt.